Abwahl per Fernbedienung
Der Schaden ist hoch, schreibt Milind Kokje: Es ist, als würden täglich hundert Jumbo-Jets abstürzen. Oder wöchentlich eine Tsunami-Katastrophe ganze Landstriche wegspülen. Genügend Stoff, damit sich die Medienberichte überschlagen. Die Auswirkungen der Armut fordern kontinuierlich solch hohe Opferzahlen – trotzdem bleiben die Reaktionen in den Medien aus. Jedes Jahr sterben zehn Millionen Kinder bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Über 800 Millionen Menschen leiden an Hunger. Armut fordert mehr Opfer, als sie der Krieg verschlingt – zu diesem Vergleich kommt der in Mumbai lebende Entwicklungsexperte und Journalist Milind Kokje, der über 25 Jahre in indischen Fernsehprogrammen und Nachrichtenredaktionen gearbeitet hat. Werden die Millennium Entwicklungsziele (MDGs) nicht umgesetzt, wird es so bleiben, schreibt er in seinem neuen MDG-Media-Blog. Carina Körner hat den Text ins Deutsche übertragen.
Eigentlich sollte das genug Futter für den unstillbaren Sensationshunger der Medien sein. Doch sie reagieren nicht. Und mit aller Wahrscheinlichkeit werden sie auch in Zukunft nicht reagieren. Dieses gesamte Leid reicht nicht aus, um Schlagzeilen zu machen. Die Medien kontrollieren und recherchieren kaum, ob Armutsbekämpfung entlang der Millennium Entwicklungsziele Fortschritte macht.
Die Opfer der Armut können sich keine Zeitungen leisten. Sie konsumieren keine Luxusprodukte. Sie gehören insofern auch nicht zur Zielgruppe für Werbeanzeigen in Magazinen und für Werbespots auf den Fernsehbildschirmen. Warum also sollten die Medien sich um Menschen kümmern, die in keiner Weise zu ihren Einnahmen beitragen? Vielleicht erscheint hier und da ein Artikel oder wird dort ein Beitrag im Fernsehen gezeigt – um einen Trend nicht zu verpassen. Oder allein, um zu zeigen, dass den Redakteuren ein soziales Gewissen nicht völlig abhanden gekommen ist. Aber es wird nicht kontinuierlich über sie berichtet.
Die Medien scheinen vom Weg abgekommen zu sein. Sie haben nicht nur ihren ethischen Auftrag vergessen, sie haben durch die weitreichende Kommerzialisierung des Mediengeschäfts auch ihre ureigene Bestimmung zu einem erheblichen Teil verloren. Wie sollte man von den Medien heute noch erwarten, dass sie mit ihren Berichten zur weltweiten Armutsbekämpfung beitragen oder zumindest in regelmäßigen Abständen an die Millenniumziele erinnern, damit diese in der gesetzten Frist auch erreicht werden? Eine Erklärung: Der moderne Journalismus befindet sich in einem Korsett aus Terminen und Fristen. Platz für soziale Themen gibt es dort kaum mehr. Die Folge: Der Journalismus verliert zunehmend Funktionen, die für sozialen Frieden und in einer Demokratie so wichtig sind.
Das zeigt sich im Verhalten von Geschäftsführern, über Redakteure bis hin zum Medienkonsumenten. Es ist, wie James Fallows im Vorwort zu seinem Buch „Breaking the News“ über eigene Erfahrungen mit amerikanischen Medien schreibt: Die Kontrolle der Presselandschaft liegt längst bei Managern und Investoren. Nachrichten müssen schneller und kostengünstiger produziert werden. Der anspruchsvolle Informationsjournalismus muss zurückstehen. Es geht um Gewinne, um Marktanteile und darum, die Bedürfnisse einer ausgewählten Leserschaft zu bedienen.
Vor einiger Zeit äußerten einige angesehene Herausgeber in Indien ihre Besorgnis über diesen Trend: „Verleger in Indien sind eine bedrohte Art“, sagte Vinod Mehta, der Herausgeber des wöchentlich erscheinenden indischen Magazins Outlook. Khushwant Singh, ein ebenso hochgeschätzter Herausgeber, äußerte ähnliches: „Die harte Wahrheit über den indischen Journalismus ist, dass die Eigentümerinteressen relevant sind, nicht die Interessen der Herausgeber. Geld zählt – nicht Talent.“ Rahul Singh, ein weiterer anerkannter indischer Journalist fasste die Situation treffend zusammen: „Die Marketing-Abteilung bestimmt die Show. Sie entscheidet, wie die Titelseite aussehen soll – nicht die Redaktion. Die indischen Zeitungen sind zur Ware verkommen – sie sind keine Publikationen mehr, die aufklären und so einen gesellschaftlichen Wandel ermöglichen.“ Obwohl diese drei Autoren sich auf die Situation in Indien beziehen, denke ich, dass es auch anderswo ähnlich aussieht.
Monarchen, Despoten, Militärdiktatoren sind eine Gefahr, weil sie zivilrechtliche Freiheiten im Allgemeinen und unabhängige Medien im Besonderen demontieren. Die Privatwirtschaft ist zu einer weiteren Bedrohung für Pressefreiheit geworden. Marktanteile, Werbeeinnahmen und politischer Eigennutz treiben die allgemeine Medien-Agenda an. Das Resultat: Meinungsvielfalt geht verloren, die politischen Standpunkte, die in den Publikationen vertreten werden, unterscheiden sich immer weniger. Gerade davon aber leben Demokratie und Freiheit. Die Medienbranche wächst, expandiert rapide. Das journalistische Engagement für die ärmsten gesellschaftlichen Schichten geht jedoch zurück.
Geschäftsführer, Medienmanager, sogar Redakteure, geben ihre Freiheit auf, um Gewinne einzustreichen. Journalisten und Chefredakteure vergessen ihre traditionelle Rolle in der Gesellschaft. Es fehlen Hintergrundwissen, ein tieferes Verständnis für globale Zusammenhänge, Zeit für eingehende Recherchen, analytische Fähigkeiten und die Bereitschaft, hart zu arbeiten. Vor allem mangelt es an Sympathie für die Mittellosen und am Willen, ihnen eine Stimme zu geben. Es wäre interessant herauszufinden, wie viele Journalisten die MDGs kennen. Auch Journalisten scheinen den Bezug zu den Themen, die die Menschen wirklich interessieren, verloren zu haben. Und wissentlich oder unwissentlich verschlimmern selbst Medienkonsumenten die Situation durch ihre Fernseh- und Lesegewohnheiten.
Es wäre auch lohnend, herauszufinden, welcher Anteil der Bevölkerung sich tatsächlich für die Probleme interessiert, mit denen Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Selbst Medienkritiker, die die Medien für ihre flache Berichterstattung anprangern, entpuppen sich im Privaten oftmals als Konsumenten eben jener Inhalte, die sie kritisieren. Als jüngst eine Gruppe gut ausgebildeter Stadtbewohner mit mittlerem Einkommen nach ihren Fernsehgewohnheiten befragt wurde – ob sie einen Beitrag über die Hochzeit zweier Prominenter oder einen Beitrag über den Selbstmord armer Bauern bevorzugen würden – entschieden sie sich für die Berühmtheiten.
Diese Situation führt zu einem wichtigen Aspekt: der Medienkompetenz. Täglich werden Medienkonsumenten vierundzwanzig Stunden lang mit raffiniert produzierten, wohlüberlegten Nachrichten bombardiert, die neben der Information ausgeklügelte Analysen liefern und überdies für Produkte werben. Die Frage ist, ob die Rezipienten gewappnet sind, diese Nachrichten vollständig zu decodieren und das perfide Spiel zu verstehen, das die Medien spielen. Hat uns irgendjemand beigebracht, diese Nachrichten zu empfangen, zu filtern, zu verstehen und zu nutzen? Unglücklicherweise wurden über einen langen Zeitraum, in dem die Medienbranche beständig wuchs, in diese Richtung keine großen Anstrengungen unternommen. Wenn es auch spät ist, es muss jetzt geschehen. Das Mediengeschäft gaukelt dem Publikum unablässig eine große Inszenierung von Banalitäten vor.
Sobald die Bevölkerung aufhört, die Niveaulosigkeiten zu konsumieren und sie schlicht mit ihrer Fernbedienung abwählt, wird auch die Quelle aufhören, Ramsch zu liefern. Die Medien sind clever. Sobald sie feststellen, dass sich der Geschmack des Publikums geändert hat, passen sie sich sofort an. Das zeigte sich in den letzten Jahren bei den Bollywood-Filmen.
Nicht nur für einen Großteil des Publikums wäre mehr Medienkompetenz vorteilhaft. Es ist unbedingt nötig, auch eine Kampagne für mehr Kompetenz in den Medien auf den Weg zu bringen. Wer in den Medien arbeitet, muss besser ausgebildet werden, muss mehr über die Rolle der Medien in der Gesellschaft erfahren, über die soziale Verantwortung der Presse, über Probleme, mit denen Menschen weltweit konfrontiert sind. Sie müssen über Marginalisierung und Unterdrückung Bescheid wissen, sowie über die MDGs, über unsere jüngste Vergangenheit und unser geschichtliches Erbe aufgeklärt werden. Medienschaffende müssen sich beispielsweise mit Menschenrechtsfragen, der weltweiten Wasserproblematik und der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auseinandersetzen – und vor allem mit der Freiheit und der Bedeutung einer unabhängigen Presse. Ebenso wichtig ist es, Journalisten zu helfen den Kontakt zu allen Schichten der Bevölkerung wieder herzustellen.
Die Forderung nach mehr Kompetenz zielt demnach in beide Richtungen: auf die Medienschaffenden wie auf die Medienkonsumenten. Dies könnte die Unabhängigkeit der Presse stärken, damit sie wieder stärker soziale Fragen beleuchtet und ihren Teil zur Ausrottung von Armut beiträgt.
Medienkompetenz wird die Nachfrage nach sachgerechter Berichterstattung stärken. Die Kompetenz der Medien, wiederum, wird gut ausgestattete und unabhängige Medien hervorbringen. Dafür ist es angebracht, sich noch einmal die Rolle von Herausgebern und Redakteuren in Erinnerung zu rufen, den ursprünglichen Zweck des Journalismus und die Funktion von Nachrichten. In diesem Kontext kann ich nicht widerstehen, noch einmal den Herausgeber des ‚Outlook’, Vinod Mehta, zu zitieren. Er schrieb in einem Beitrag: „Die Redakteure sind dazu berufen, den Leser anzuleiten – nicht, um sich von ihm führen zu lassen. Wahrlich, großer Journalismus muss mehr liefern, als lediglich das, wonach das Publikum verlangt. Brandmanager – einmal von ehrenwerten Ausnahmen abgesehen – lassen selten erkennen, dass sie die soziale Dimension sowie die Bedeutung der öffentlichen Aufgabe des Journalismus für eine freie Gesellschaft noch begreifen.“
Milind Kokje,
Koordinator des Asia Media Forum
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Ricardo Uceda, geschäftsführender Director von IPYS, Lima/Peru (Instituto De Prensa Y Sociedad), investigativer Journalist, ehemaliger Leiter der Wochenzeitung “Si“, und der Abteilung investigativer Journalismus in der Tageszeitung “El Comercio“, Preisträger unter anderem des International Press Freedom Award des Committee to Protect Journalists